Was bedeutet eine Bürgerversicherung für die medizinische Versorgung?

September 2021
Menschen im Wartezimmer

Befürworterinnen und Befürworter einer Bürgerversicherung argumentieren oft, dass sich damit die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung stabilisieren ließe. Die Beiträge der Versicherten würden sinken. Was von diesen Versprechungen zu halten ist, haben wir bereits dargelegt.

Fast ebenso häufig fällt aber auch das Schlagwort „Zweiklassenmedizin“, vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Ungleichbehandlung von privat und gesetzlich Versicherten. Der Wunsch nach einer Verbesserung des Gesundheitssystems scheint groß. So schreiben Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Internetauftritt: „Wir schaffen für alle eine gute und gerechte Gesundheitsversorgung“. Im SPD-Programm heißt es, man wolle einen gleich guten Zugang zur medizinischen Versorgung für alle schaffen.

Wer das liest, könnte meinen, es gebe hierzulande keine gute medizinische Versorgung. Schaut man sich aber verschiedene Aspekte genauer an, ergibt sich ein anderes Bild.

Wie gut ist die medizinische Versorgung in Deutschland?

Umfragen zeigen seit Jahren hohe Zufriedenheitswerte, wenn die Menschen in Deutschland zum Gesundheitssystem befragt werden. Laut einer Allensbach-Umfrage vom Dezember 2020 waren 91 Prozent der gesetzlich Versicherten und 94 Prozent der privat Versicherten zufrieden mit ihrer persönlichen medizinischen Versorgung. Die Patientinnen und Patienten selbst sehen also offensichtlich keinen dringenden Verbesserungsbedarf – und zwar unabhängig davon, wie sie versichert sind. Nach einer Zweiklassenmedizin sieht das nicht aus.

Problematisch ist in der Tat die ärztliche Versorgung in vielen ländlichen Regionen. Es fehlt an sogenannten Landärzten. Nach Auffassung der Bürgerversicherungs-Befürworter liegt dies daran, dass es in den Städten mehr Privatversicherte gibt. Wegen dieser Privatversicherten sei es für Ärztinnen und Ärzte deutlich lukrativer, dort eine Praxis zu führen. Diese Behauptung wurde jedoch durch eine Studie des WIP (Wissenschaftliches Institut der PKV) widerlegt. Die Analyse befasste sich 2017 mit der regionalen Verteilung von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland und anderen OECD-Ländern. Obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, dürfte sich an den Ergebnissen nicht großartig etwas geändert haben: 

Die regionale Ungleichverteilung von Ärzten ist ein internationales Phänomen. Die Patientenstruktur ist eher von geringerer Bedeutung. Vielmehr wählen Ärztinnen und Ärzte ihren Niederlassungsstandort eher danach aus, wie die Job-, Schul- und Freizeitangebote für sie und ihre Familien aussehen. Eine Bürgerversicherung würde deshalb die ärztliche Versorgung auf dem Land nicht verbessern können.

Im Gegenteil: Vor allem Landarztpraxen profitieren von Privatversicherten.

Durch die Abrechnung der Behandlung nach GOÄ erzielen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte Mehreinnahmen gegenüber der Behandlung von GKV-Versicherten. Ohne die PKV würden jeder Arztpraxis durchschnittlich rund 55.000 Euro jährlich fehlen. Der PKV-Verband hat ausgewertet, wie sich der Mehrumsatz auf die ländlichen Regionen verteilt. Das Ergebnis war eindeutig: Gerade im ländlichen Raum sind Privatversicherte von großer Bedeutung für die medizinische Versorgung. So haben beispielsweise Landärztinnen und -ärzte im Hochsauerlandkreis 85.000 Euro an Mehrumsatz im Jahr, niedergelassene Mediziner im Großraum Köln hingegen mit 51.000 Euro deutlich weniger. Bei Einführung einer Einheitsversicherung fielen diese Mehreinnahmen weg – nicht nur in Arztpraxen, sondern auch bei anderen Heilberufen wie Physiotherapeuten, Logopädinnen sowie ebenfalls bei Hebammen.

Die Bürgerversicherung würde die medizinische Versorgung also verschlechtern, statt sie zu verbessern.

Gibt es in Deutschland eine Zweiklassenmedizin?

Der Begriff Zweiklassenmedizin unterstellt, dass sich die Qualität der Behandlung nach dem individuellen Versichertenstatus richtet. Das ist nicht der Fall. Ihre Ärztin oder Ihr Arzt behandelt Sie stets bestmöglich. Es stimmt zwar, dass nicht alle gewünschten Leistungen von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden, so zum Beispiel beim Zahnersatz. Hier lässt sich aber entgegen: Mit dem gebotenen Schutz erhalten die Versicherten eine gute Grundversorgung, zudem können sie eine Zusatzversicherung abschließen. Wollen Privatversicherte solche Mehrleistungen erstattet bekommen, müssen sie einen entsprechenden Tarif wählen und dafür einen höheren Beitrag zahlen. Vor allem aber würden solche Leistungen auch in einer Bürgerversicherung nicht von den gesetzlichen Kassen übernommen. Wer es sich leisten kann, würde eine Zusatzversicherung abschließen oder die Leistungen privat aus der Tasche zahlen.

Ohne den Wettbewerb mit der Privaten Krankenversicherung könnte der Leistungsumfang in der Bürgerversicherung immer weiter reduziert werden, insbesondere bei schlechterer Kassenlage. Damit würde der Weg in eine tatsächliche Zweiklassenmedizin beschritten, bei der der Geldbeutel entscheidet, wie gut die medizinische Versorgung ist.

Ein weiteres Argument, das von Befürwortern einer Bürgerversicherung gerne angeführt wird, sind angebliche Unterschiede bei den Wartezeiten. Als Privatversicherte wurden Sie eventuell schon persönlich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass Sie schneller einen Termin erhalten und vor Ort kürzer warten müssen als gesetzlich Versicherte. Die Erfahrungen hierzu sind allerdings sehr unterschiedlich – sowohl bei gesetzlich als auch privat Versicherten.

Internationale Vergleiche zeigen zudem, dass die Wartezeiten in Deutschland mit am niedrigsten sind: Drei von vier Menschen hierzulande erhalten spätestens am Folgetag einen Termin beim Hausarzt, unabhängig von ihrem Einkommen. In Ländern mit einer Einheitsversicherung sind die Wartezeiten wesentlich länger. Ob Sie nach Einführung einer Bürgerversicherung kürzer auf einen Termin beim Hausarzt oder einer Fachärztin warten müssten, dürfte deshalb fraglich sein.

Hinzu kommt: Die Wartezeiten werden von den Patientinnen und Patienten in der Regel nicht als Problem empfunden. Laut einer Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung von 2021 gaben 82 Prozent an, dass ihnen die Wartezeiten auf einen Arzttermin nicht zu lang waren. Die Einführung einer Bürgerversicherung würde jedenfalls die Wartezeiten insgesamt nicht verkürzen.

Die medizinische Versorgung in Deutschland ist sehr gut. Eine Bürgerversicherung würde sie nicht verbessern, sondern verschlechtern. Maßnahmen zur Verbesserung einzelner Aspekte wie der ärztlichen Infrastruktur auf dem Land ließen sich gut im bestehenden System angehen. Dazu müsste es nur einen Konsens der Koalitionspartner geben.